Kleider machen Leute

    Kleider machen Leute. Und Computer machen Kleider.

     

    In vielen Bereichen sind die Segnungen der modernen Technik für jedermann sichtbar. In anderen nicht - wie zum Beispiel in der Fertigung von Kleidungsstücken.

    Ich bin ein Kleidungsfetischist. Nicht so wie jener Herr meiner Bekanntschaft, dessen Wohnung quasi ein begehbarer Kleiderschrank ist. Auch nicht so wie jener Verflossene, der mehr Schuhe als ich hat. Ich mag Qualität, schöne Stoffe. gute Schnitte. Und gutangezogene Menschen - aus rein ästhetischen Gründen. Ich drehe mich auch nach Frauen auf der Straße um, wenn sie schick angezogen sind, aber gutangezogene Männer machen mir noch etwas mehr Freude. Nach meiner völlig unerheblichen und gleichermaßen subjektiven Meinung gibt es kein kleidsameres Kleidungsstück für den Herrn als einen Frack. Da der im Alltag fast verschwunden ist, kann ich mich auch an Anzügen erfreuen, wenn auch mit Einschränkungen.

     

    Einer der Vorteile des Frackes ist, daß man damit wenig falsch machen kann. Die Auswahlmöglichkeiten sind relativ begrenzt und der Kauf von Abendgarderobe findet zumeist in Läden statt, wo man vernünftig beraten wird - für Anzüge kann das leider nicht gelten, und entsprechend lang ist die Liste gruseliger Scheußlichkeiten, die man in deutschen Durchschnittsbüros und Straßenbahnen zu sehen bekommt. Gestreifte Hemden, wo die Streifen nicht aneinanderpassen. Schuhe mit Kreppsohlen und unsäglichen Nähten an Stellen, wo keine Nähte sein sollten. Oder es fehlen Nähte, wo sie hingehören. Hosen zu kurz, Hosen zu lang, was sich dann häufig bei den Jackettärmeln und der Krawatte wiederholt. Hosen ohne Gürtel - mich schaudert's beim bloßen Gedanken. Schrecklich auch, wenn Hemdkragen und Jackettkragen nicht vernünftig aneinandersitzen. Ich weiß auch, wem ich das zu verdanken habe: Computern und Maschinen. Und der Massenkonfektion.

     

    Jeder, der schon mal Papier in Stapeln geschnitten hat, kennt das: ein, zwei, drei Blatt kann man sauber schneiden, bei mehreren Blättern werden einige zwangsläufig schief. Das gleiche passiert mit von Maschinen geschnittenen Stoffen: werden viele T-Shirt oder Anzugteile für die Billigware großer Bekleidungsketten gleichzeitig in Stapeln geschnitten, fallen die Zuschnitte unweigerlich unterschiedlich aus. Weshalb es sich in den fraglichen Läden immer lohnt, drei Teile derselben Größe durchzuprobieren: sie fallen meistens unterschiedlich aus. Man kann das natürlich auch als Vorteil betrachten, von den unschlagbaren Preisen ganz abgesehen, die es jedermann zumindest theoretisch ermöglichen, sich geschmackvoll und modisch zu kleiden (wenn man denn wollte).

    Ohne Zweifel hat die Maschinisierung des Schneiderhandwerks einschneidende Folgen für die Modewelt gehabt. Allerdings nicht nur am unteren Ende der Bandbreite. Sehr fraglich, ob es ohne Computer die Maßkonfektion - was für ein Widerspruch in sich - überhaupt gäbe, und ob sie derartige Verbreitung gefunden hätte. Unzählige Firmen bieten heute Baukastenkollektionen an, bei denen man sich vor Ort vermessen läßt, Hosen, Röcke und Jacketts im Rahmen mehr oder weniger beschränkter Möglichkeiten individualisiert, die dann in manchen Punkten an die persönlichen Maße angepasst werden. Junge Damen mit Armen wie ein Orang-Utan kommen so zu Blusen, deren Manschetten am Handgelenk sitzen. und nicht am Ellenbogen. Und Herren mit Überlänge zu Hosen in Überlänge.

     

    Möglich macht es unter anderem das Computer-Aided-Design. Wer einmal die unterschiedlich gebogenen Linien eines Schnittmusters in verschiedenen Größen gesehen hat, weiß, wie kompliziert es ist, Schnittstücke auf Papier an andere Größen anzupassen. Ein am Computer entworfenes Schnittmuster hingegen läßt sich mittels Algorithmen und Rechnerleistung mit relativ wenigen Klicks in vielen Dimensionen anpassen, wenn man erst in die erforderlichen Vorarbeiten investiert hat. Tatsächlich ist auch hier die Bandbreite groß: bei manchen Anbietern wird fast jeder Sonderwunsch berücksichtigt. Bei anderen ist die Passform am Ende immer noch weitgehend standardisiert, und die Flexibilität erstreckt sich eher auf die dekorativen Details. Zwar gab es schon früh Anbieter dieser Dienstleistung, aber erst mit der Verbreitung des Internetversandhandels wurde es ein Massengeschäft. Einmal vermessen, kann man problemlos vom heimischen Rechner aus nachordern - wenn man auf das Vergnügen, die Stoffauswahl befingern zu wollen, verzichten kann - und die Ware sogar postalisch verschicken lassen.

    Dreidimensionale Darstellungen vermitteln ein ziemlich realistisches Bild vom Endergebnis, von der Haptik abgesehen - und auf die verzichtet der moderne Mensch ja ohnehin oft genug beim Onlinekauf. Auch die Bastion des „liebevollen Details" wurde längst gestürmt: farbig abgsetzte Hemdkragen, durchgeknöpfte Jackettärmel - alles kein Problem für die Maßkonfektion. Minimaler Aufwand, moderate Preise - ein unschlagbares Angebot in Zeiten der in dunklem Zwirn uniformierten Dienstleistungsgesellschaft. Knapp unterhalb der bereits etablierten Maßkonfektion entsteht seit kurzem sogar ein noch etwas günstigeres Segment, bei dem der Kunde sich selbst vermißt und seine Daten in entsprechende Formulare einträgt - das funktioniert für Hemden ebenso wie für Abendkleider. Durchaus möglich, daß zukünftig die verrufenen dreidimensionalen Körperscanner auch vermehrt zum Einsatz kommen und das leidige Vermessen vereinfachen werden.

    Die einzigartige Passform der maßgeschneiderten Luxusliga ist damit allerdings trotzdem nicht zu erreichen. Echte Maßbekleidung ist aus gutem Grund erheblich teurer und in Bereichen, die sich kaum automatisieren lassen. Die reine Nähzeit für einen Anzug dürfte bei etwa 10-20 Stunden liegen, ein richtiger Maßschneider hingegen investiert eher an die fünfzig Stunden in einen Anzug. Wo die Computer aufhören, werden sämtliche körperlichen Eigenheiten des Kunden ins Schnittmuster eingearbeitet, dann wird eine Rohversion "geheftet" (also mit großen Stichen lose genäht) und probiert, erst danach folgt die eigentliche Fertigung, erneute Anprobe, wieder Änderungen - es ist nicht die reine Nähmaschinenlaufzeit, die die Kosten hochtreibt, sondern die menschliche Dienstleistung eines erfahrenen Auges und geschickter Hände beim Anpassen.

     

    Die Handarbeit der do-it-youself Individualisten hat der Computer hingegen sehr vereinfacht. Schnittmuster von Hand zu zeichnen ist ein mühsames Geschäft und erfordert erheblichen Sachverstand. Oder leidlich versierten Umgang mit Schnittmusterprogrammen, die es für die gesamte Bandbreite - vom Profi bis zur ambitionierten Hausfrau - gibt. Die kauft allerdings im Zweifel im Online-Shop ein Schnittmuster in ihrer Größe - oder sogar ein Schnittmuster, bei dem die eigenen Maße im Standardschnittmuster punktuell berücksichtigt werden. Quasi Maßkonfektion zum Selbernähen, wobei man ja bei selbstgenähten Stücken immer noch an der Paßform manuell nachbessern kann. Meine Großmutter hat noch Kurse an der Volkshochschule belegt - ihre Enkelin kauft heute ein Buch und schaut sich Lernvideos im Internet an. Der Computer hilft, das Ergebnis zu visualisieren, er kann die Zuschnitte optimal auf der Stoffbahn verteilen, und offene Fragen werden in Foren ausgetauscht, gewissermaßen im virtuellen Kaffeekränzchen.

    Für ein wirklich exquisites Kleidungsstück muß man entweder viel Geld oder viel eigene Zeit investieren, ohne daß man es dem Ergebnis sofort ansieht. Maßgeschneiderte Kleidung, von Hand genähte Schuhe aus dem Leder glücklicher Rinder, nach eigenen Wünschen - das fällt den wenigsten, im Zweifel nur dem Träger auf. Und darauf kommt es an, sagt mein aus Ex-Gründen zum Schuhfetischismus  gewechselter Verflossener.